Mehr Bewegung im Alltag. Wie mache ich das? Ein Expertinneninterview mit Tina

Mehr Bewegung im Alltag

Seit Mitte Oktober 2022 haben wir es leider schwarz auf weiß. Laut dem Global Status Report der WHO bewegen wir uns viel zu wenig.Im Ländervergleich schneidet Deutschland überdurchschnittlich schlecht ab: 44 Prozent der Frauen und 40 Prozent der Männer über 18 müssten aktiver werden, so die WHO. Besonders besorgniserregend sei es bei den Jugendlichen in Deutschland: 88 Prozent der Mädchen und 80 Prozent der Jungen bewegen sich zu wenig. Doch wie schaffe ich es ganz praktisch, mehr Bewegung im Alltag zu bekommen?

Ich selber bin großer Fan von Alltagsbewegung. Durch meinen Hund sowie der täglichen Fahhradstrecke zum Kindergarten meiner Tochter habe ich meinen Weg zu mehr Bewegung gefunden. Doch was für weitere Tipps gibt es?
Dazu habe ich ein tolles Interview für euch mit Tina führen dürfen.

Tina Bredack ist Physiotherapeutin und Expertin für mehr Bewegung und Sport.

Als Mutter von zwei Kindern weiß sie aber nur zu gut, wie schwer es manchmal sein kann,Zeit und Energie dafür zu finden.

Auf ihrem Blog Mamamachtsport findest Du Anregungen und hilfreiche Tipps, wie Du zu mehr Bewegung im stressigen Alltag kommen kannst.

Liebe Tina, Mamamachtsport heißt nicht nur dein Blog, sondern ist bei dir auch Programm. Du gibst Müttern Tipps, wie sie Sport in ihren stressigen Alltag integrieren können.
Aber wieso ist Sport wichtig für die Gesundheit? Was antwortest du da?

Ich würde gar nicht behaupten, dass Sport generell wichtig für die Gesundheit ist. Ich halte
Bewegung und einen aktiven Lebensstil für wichtiger. Das kann Sport beinhalten, ist aber
nicht der einzige Weg um sich fit und gesund zu halten und auch noch lange nicht alles.
Sport hat jedoch einen großen Vorteil. Vor allem wenn du deine körperliche
Leistungsfähigkeit in irgendeiner Weise verbessern willst, ist es das effektivste Mittel um
Erfolge zu erzielen.
Mit Sport verbesserst du aber nicht nur deine Kondition, deine Muskelkraft oder
Körperstabilität. Gehst du hin und wieder an deine Belastungsgrenzen und stellst dich
sportlichen Herausforderungen erhöhst du nebenbei auch deine mentale und psychische
Widerstandskraft, also deine Resilienz.
Zusätzlich zu der Me-Time und der Auszeit vom Alltag, die du dir während deiner
Trainingseinheit gönnst, kannst du also auf vielen Ebenen etwas für deine Gesundheit tun,
während du noch erfolgreich Stresshormone abbaust.
Das nenne ich mal effizient! 😊

Du bist ja gelernte Physiotherapeutin, was sind
die größten Fehler, die wir heutzutage machen?
Was sind die größten Hürden aus deiner Sicht?

Die Antwort ist simpel: Wir leben nicht artgerecht!
Versteh mich bitte nicht falsch: Ich möchte auch nicht mehr 20 km am Tag zurücklegen
müssen, um mein Abendessen zu jagen oder zu sammeln, aber Fakt ist auch, dass unser
Körper auf genau dieses Leben ausgelegt ist.
Der Mensch hat sich während seiner Evolution zum besten Ausdauerläufer des Planeten
entwickelt. Unser Körper ist darauf ausgelegt, lange und ausdauernd zu laufen. Unser Gehirn
möchte jedoch in jedem Fall Energie sparen.
Das ist das Problem zur heutigen Zeit. Wir haben uns unsere Umwelt so geschaffen, dass
wir keine körperlichen Höchstleistungen mehr vollbringen müssen und unser Hirn nimmt das
dankend an und hetzt uns quasi unseren Schweinehund auf den Hals, damit wir ja nicht zu
viel Energie verbrauchen, während wir aber oftmals sogar noch viel zu viel davon in Form
ungesunder Ernährung zu uns nehmen.
Dazu kommt noch permanenter Stress, dem viele von uns ausgesetzt sind. Dabei ist es
völlig egal, ob der real ist oder wir uns selbst „verrückt“ machen. Es spielt auch keine Rolle,ob wir physisch oder psychisch unter Druck stehen. On Top kommt noch die permanente
Berieselung mit Bad News.
Das ist eine ganz und gar ungesunde Kombination.
Die meisten Menschen, die mir in der Praxis begegnen, entwickeln ihre körperlichen
Beschwerden aufgrund dieses Lifestyles und haben keine Ahnung, wie sie aus diesem
Teufelskreis aussteigen sollen, da sie am Ende des Tages völlig erschöpft sind. Sie können
sich gar nicht vorstellen, sich noch zusätzlich anzustrengen, um ihn aufzubrechen.

Ich lege selber bei meinen Gesundheitscoachings vor allem den Fokus darauf, mehr Alltagsbewegung in den Tagesablauf zu integrieren.
Wie schaffst Du es ganz konkret, Dich “ohne Sport” im Alltag zu bewegen? Hast Du einen guten Tipp?

Wenn ich über deine Frage nachdenke, muss ich etwas schmunzeln, weil ich mir meinen
Alltag ohne Sport gar nicht mehr vorstellen kann. Er gehört für mich einfach dazu, auch wenn
die Intensität und die Zeit, die ich dafür aufbringe deutlich zurückgegangen ist, seit ich zum
ersten Mal Mama geworden bin.
Ich nutzte zusätzlich meinen Arbeitsweg, um mehr Bewegung in meinen Alltag zu bringen
und nehme so gut wie immer das Rad.
Fahrstühle meide ich konsequent, stell das Auto lieber etwas weiter vom Ziel ab, turn mit
meinen Kids zusammen über den Spielplatz und versuche mich im Haushalt nicht um
zusätzliche Wege herumzudrücken. Das bedeutet, ich lauf eben doch lieber zweimal, als
alles fallen zu lassen. 😉
Der Wäschekorb steht auch immer etwas weiter von der Leine entfernt und seit einiger Zeit
höre ich wieder mehr Musik und tanze durch die Küche.
Ich habe erst vor kurzem einen Beitrag darüber auf meinem Blog veröffentlicht, wie du es
schaffst mehr Bewegung in deinen Alltag einzubauen. ( Hier findest Du ihn)
Ich empfehle erst einmal eine Bestandsaufnahme zu machen. Also eine Liste mit allen
Alltagsbewegungen und Handlungen, die du den Tag und die Woche über ausführst.
Danach schaust du, wo du individuell für dich noch Potential siehst, oder dir vorstellen
kannst, etwas zu verändern.
Hier gibt es keine pauschalen Lösungen. Das würde nur zusätzlich stressen.


Viele starten ja motiviert, haben vor allem Probleme, langfristig motiviert dran zu bleiben. In deinem Blogartikel Mehr Zeit für Sport gibst Du ja konkrete Tipps, wie ich Sport im Alltag integrieren kann.
Was für eine Empfehlung hast Du für mich als Mutter von zwei Kids, wie ich dranbleiben kann, ohne dass der Alltag mich wieder einholt?

Provokant wie ich manchmal bin, würde ich dir zuallererst empfehlen, den Sport nicht
außerhalb deines Alltags zu „denken“! 😉

Ich weiß, dass das vielleicht für den ersten Moment wie harter Tobak klingt, aber bei näherer
Betrachtung wird es logisch: Solange du dich mit dem Sport, den du treibst, nicht
identifizieren kannst, wird er nicht zu deinem Alltag gehören. Dann bleibt er einfach nur
etwas, was du erledigen musst, um dann wieder zur Tagesordnung übergehen zu können.
Das halten die wenigsten lange durch.
Ich habe übrigens meinen allerersten Blogartikel „Das Geheimnis sportlicher Mamas“ über
dieses Thema geschrieben. Darin erläutere ich, wie du es schaffen kannst , Sport zu deiner
Gewohnheit zu machen und damit dauerhaft am Ball zu bleiben.

Ganz kurz gefasst besteht mein Rat aus folgenden 3 Punkten:

  • Such dir eine Sportart, die dir Spaß macht. Egal ob Laufen, Pilates, Badminton,
    Fußball oder Kraftsport, es muss dir entsprechen, sonst verlierst du bald wieder die
    Lust daran.
  • Setz dir, wenn nötig ein erreichbares Ziel, denn Erfolgserlebnisse erhöhen die
    Motivation
  • Anfangs kann es helfen, mit festen Terminen im Kalender für Regelmäßigkeit zu
    sorgen. Die kannst du beispielsweise auch wöchentlich neu festlegen, wenn du mehr
    Flexibilität brauchst. Bei Vereinsportarten oder Sportkursen erübrigt sich diese Frage
    bereits.

Du bist ja selber ein sehr sportlicher Mensch. Gibt es für Dich eine Sportart, die Du für besonders gut geeignet hältst: effektiv und zeitsparend?

Puh, das ist keine leichte Frage, denn die eierlegende Wollmilchsau gibt es leider auch hier
nicht. Es kommt ja immer darauf an, was du erreichen möchtest. Möchtest du deine Kraft
und Stabilität erhöhen oder deine Kondition und Ausdauer verbessern? Und schon an
diesem Punkt stehen dir unzählige Möglichkeiten zur Verfügung, aus denen du je nach
deinen Vorlieben auswählen kannst.
Für mich persönlich ist das Hochintensive Intervalltraining, oder kurz HIIT die zeitsparendste
und dabei trotzdem noch effektive Trainingsform.
Dabei trainierst du, wie der Name schon sagt, in kurzen Zeitintervallen an deiner
Belastungsgrenze. Dazwischen liegt immer eine kurze Pausenzeit von einigen Sekunden bis
wenigen Minuten.
Mit HIIT kannst du sehr gut deine Kondition und Kraft verbessern oder erhalten, ohne massiv
Zeit investieren zu müssen und das sogar zu Hause auf der Matte. Ich liebe es und habe
dieser Art des Trainings deshalb auch einen ausführlichen Beitrag auf meinem Blog
gewidmet. Ich selbst trainiere auf diese Weise meine Kraft und Kraftausdauer vorwiegend mit
funktionellen Übungen. Mittlerweile gehören aber auch schwere Hanteln und eine
Gewichtsweste zu meinem Equipment um mich ausreichend zu fordern, wenn mein
Körpergewicht nicht ausreicht, oder ich bestimmte Muskelgruppen isoliert trainieren will.
Denn genau hier liegt der Knackpunkt: Du musst an dein jeweiliges Limit gehen wollen. Mir
persönlich macht genau das riesigen Spaß und motiviert mich immer wieder aufs Neue. Aber
es ist natürlich nicht für jeden etwas und vor allem Einsteigern fällt das verständlicherweise
oft schwer, oder schreckt sogar ab. Ausprobieren lohnt sich aber immer.

Trotz allem ist HIIT keine Komplettlösung. Es kommt immer darauf an, was du selbst für dich
erreichen möchtest und für was du es nutzt. Du wirst damit allein zum Beispiel nicht fit für
den nächsten Halbmarathon, aber es kann eine tolle Ergänzung für dein Training sein.
Was es für mich, als Mama mit kleinen Kindern so unheimlich praktisch macht, ist die
Flexibilität. Die Kids spielen ein paar Minuten einträchtig zusammen, oder schauen eine
Serie? Wunderbar! Schnell umgezogen, Matte ausgerollt, Timer eingestellt und los geht es.
Für alle, die keine Ahnung haben, was sie machen sollen, gibt es tolle Videos auf YouTube.
Da bekommt man dann sogar noch seinen Personal Trainer frei Haus! 😊

Ich merke immer, dass viele Laufen oder Yoga praktizieren, aber
völlig vergessen, dass Muskelaufbau auch nicht zu vernachlässigen ist.
Magst Du kurz erklären, wieso dieses wichtig ist und auch, warum gerade Menschen ab 35/40 und besonders Frauen dieses vermehrt tuen sollten?

Ja, diese Beobachtung mache ich selbst auch häufig, vor allem bei Menschen im mittleren
Alter. Noch dazu hält sich die Mär von den maskulinen Muskelbergen bei Frauen scheinbar
sehr hartnäckig.
Fakt ist aber, dass spätestens ab den 30ern ein stetiger Muskelabbau stattfindet. Bei Frauen
kommt hinzu, dass sie generell weniger Muskelmasse besitzen als Männer. Das liegt daran,
dass wir weniger Wachstumshormone und Testosteron produzieren.
Mit Laufen oder Yoga trainierst du zwar die Muskulatur bis zu einem gewissen Grad, kannst
aber ein gezieltes Krafttraining, welches dem Abbau effektiv entgegenwirkt, nicht ersetzen.
Mit gezieltem Krafttraining stärkst du nicht nur deine Muskulatur, sondern auch die Knochen,
Bänder und Sehnen. Trainierst du funktionell, verbesserst du gleichzeitig deine Stabilität und
Haltung.
Damit wirkst du der Entstehung chronischer Rückenschmerzen, Arthrose und Osteoporose
entgegen. Letztere tritt bei Frauen im Alter durch die hormonellen Veränderungen während
der Menopause häufiger auf.
Nebenbei erhöhst du mit Krafttraining deinen Grundumsatz, was dir dabei hilft, die
Entstehung von Übergewicht zu vermeiden oder es zu reduzieren.

Was ist dein größtes Learning, seit Du Mutter bist?

Das ist eine gute Frage! Ich habe in den letzten 6 Jahren durch meine Kinder so viel, auch
über mich selbst, gelernt, dass ich nur schwer etwas benennen kann, das heraussticht.
Klar ist es von Vorteil, wenn man flexibel bleibt, „out of the box“ denkt und nicht an starren
Strukturen festhält, die einem im Alltag eher blockieren, als Lösungen zu ermöglichen.
Unperfekt ist immer noch besser, als unzufrieden. 😉
Seit etwas über einem Jahr beschäftige ich mich nun eingehend mit dem Konzept der
friedvollen Elternschaft und einem bedürfnisorientierten Familienleben, bei dem eben nicht
nur die Kleinen im Mittelpunkt stehen.
Das hat mich gefühlt ein ganzes Stück nach vorn katapultiert und mir die Augen dafür
geöffnet, wie wenig wir doch in der Lage sind, unsere eigenen Bedürfnisse zu erkennen und
zu benennen, geschweige denn Strategien zu entwickeln, um sie uns zu erfüllen.


Das spielt aber auch im Hinblick auf einen gesunden Lifestyle eine maßgebliche Rolle. Denn
oftmals trampeln wir über unsere eigenen Grenzen einfach hinweg, weil wir sie gar nicht
mehr wahrnehmen. Wir haben ja gelernt, dass das so richtig ist.
Später wundern wir uns dann, warum wir ausflippen, oder vor Erschöpfung
zusammenbrechen, keine Kraft mehr haben oder sogar krank werden.
Daher würde ich sagen, das größte Learning ist für mich, dass ich nur gut für andere sorgen
kann, wenn ich gut für mich selbst sorge. Dass ich meine Familie nur ausreichend
unterstützen kann, wenn ich meine eigenen Kraftreserven im Blick habe und sie konsequent
auffülle. Dass ich nur dann genug Verständnis und Empathie in Stresssituationen aufbringen
kann, wenn ich auch mir das Gleiche zugestehe.
Das beinhaltet ebenfalls die Einsicht, dass es keine Selbstverständlichkeit ist zu
funktionieren! Ich will nicht nur funktionieren. Ich will leben und mein Leben genießen, mit
einem gesunden Körper und einem gesunden Geist. Das ist kein Egoismus, das ist
Fürsorge!

Und da gebe ich Dir vollkommen Recht!

Liebe Tina, ich danke Dir sehr für das tolle Interview.

1 Kommentar

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  1. […] vorwiegend sitzenden Job, doch habe ich dies gut unter Kontrolle. Ich sag nur Alltagsbewegung. ( Hier gibt es einen Blogartikel dazu)Doch 2023 hatte es in sich: Im Frühjahr bis in den Sommer hinein […]

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